Reise nach Sierra Leone im April 2010

Ankunft im Unbekannten

Zwischenlandung in Dakar, Senegal. Einige der Passagiere steigen hier aus, einige ein. Wir werden gezählt. Ein Passagier ist zuviel. Willkommen in Afrika. Die Stewards und Stewardessen zählen immer wieder, erschwert durch die Tatsache, dass alle ständig ihre Plätze wechseln, laut redend, lachend, gestikulierend. Es erfolgt die Aufforderung, an seinem Platz zu bleiben. Noch mal gezählt, wieder einer zuviel. Dann die Drohung des Flugpersonals: „Don’t talk, otherwise you can count yourselves!“ Es wird etwas stiller in der Kabine und nach natürlichen drei Versuchen hat sich der zusätzliche Fluggast weggezählt. Na also, geht doch!

Landeanflug auf Lungi, Sierra Leone. Man sieht kein Licht, kein einziges Licht! Ächzend setzt die Maschine auf. Schweigend rollen wir zum Flughafen durch die Dunkelheit. Da endlich, drei Funzeln. Sind es Teelichter? Dann taucht auch der Flughafen auf, mit seinen Leuchtbuchstaben: FRE TO N INTER ATIONAL AI PORT.

Applaus und Jubel. In Dakar hat keiner geklatscht.

Wir steigen aus und schlürfen grinsend die Luft: gefühlte 80 Grad Celsius, 230% Luftfeuchtigkeit. Dann die heißeste Schlacht am Gepäckband, die ich je erlebt habe. Innerhalb von Sekunden bin ich zwischen Leibern und Kofferkulis restlos eingeklemmt und zur Unbeweglichkeit verdammt. Ein Hüne bemerkt meine Notlage und schickt mich in die zweite Reihe: »You show me whetin you ting, a go pick am fo you.« Da kommt auch schon der 33 kg Koffer mit den Spielsachen für die Kinder. Ich zeige darauf, der Kerl schnappt ihn und wirft ihn mir galant entgegen. Mir bleibt die Peinlichkeit erspart, unter dem Koffer begraben zu werden, nur die Gliedmassen hervor schauend, die sich in alle vier Richtungen strecken, wie im Comic, ich ziehe mir nur eine blau-grüne Hand zu. Wir haben einen Flughafen-Transfer gebucht. Viele Hände schnappen unser Gepäck, dann geht es ab durch die Dunkelheit, gefolgt von Konversation betreiben-wollenden Polizisten und jede Menge USS (unidentifizierter schreiender Statisten). Es geht zu einem Kleinbus, Hände, Beine, fliegende Koffer, im Schweinsgalopp konspirativ Geld gewechselt, Stossgebete statt Kontrolle, ein USS und ein Polizist schreien sich heftig an, dann stellt sich der Polizist vor und endet mit: »Do you have small ting for me?« Direkt vor dem Terminalausgang ist schon Sierra Leone: wellige Sandpiste, eine von einer Kerosinlampe beleuchtete Bretterbude, sonst nur die Dunkelheit. Irgendwann kommen wir irgendwie an unserem Hotel an und es gibt wieder Licht und wir sind fassungslos da zu sein, wo wir sind.

 

Die Strapazen des Alltäglichen

Am nächsten Morgen: Wir sitzen auf dem Balkon. Unter uns plätschert das Meer. Auf der anderen Seite der Bucht der Leuchtturm, ein paar Baobab Bäume, Fischerboote in der Bucht. Susis Haare frohlocken sich in der feuchten Luft und sie fotografiert das, was ich gerade beschrieben habe. Wir brennen darauf loszuziehen, die alte Heimat, das Haus, die Umgebung zurück zu erobern. Jedoch, der Safe-Manager ist very busy und somewhere upstairs. Heute Nachmittag ist er nicht mehr da. Also können wir warten bis anytime from now oder unser ganzes Hab und Gut um den Bauch binden und losziehen. Was solls?

Das lang vermisste sehr verändert wiederfinden. Gemischte Gefühle, zum Teil überwältigend. Jemand begrüßt mich im Vorbeigehen mit den Worten: Welcome back home. Woher weiß er? Eine Frau im leuchtend grünen Kleid klagt: Somebody tiefed my child, und bittet um Geld. Es ist heiss.

Ein kaltes Getränk in einem lokalen Spot: Ein Hof, auf dem gekocht wird, die Wäsche gewaschen, Kinder spielen. Ein paar wackelige Tische, Plastikstühle, auf denen Love and Peace steht, ein alter Coca-Cola Container dient als Gebäude. Der Besitzer ist mir behilflich beim Organisieren einer lokalen Sim-Karte für das Handy. Zweimal muss er loslaufen, einmal, um die Karte zu kaufen, einmal, um diese frei zu schalten. Er schwitzt heftig. Dennoch, das ist Service des Hauses.

Ein wenig Vertrauen erweckender Guineaner gibt sich uns als wichtigen Geschäftsmann zu erkennen, indem er einen Zettel mit vielen Stempeln aus einem fadenscheinigen Umschlag entblättert, der beweist, dass er tatsächlich ein Päckchen nach Ghana geschickt hat. Er bietet uns an, in sein Geschäft einzusteigen und bei ihm einzuziehen. Ein anderer Gast identifiziert Susi treffsicher als Mexikanerin. Das hatte sie selbst noch nicht gewusst. Ihr Nachname Rahn ist ein verschlüsseltes Akronym für Arriba de las Rosas Perdidas, oder so.

Auf dem Rückweg werden wir von Jesus ins Stadion zur Power Night eingeladen, stellvertretend von zwei Aposteln und jemand zeigt uns eine Abkürzung: einen Trampelpfad, den sonst nur Hunde benutzen. Zurück im Hotel lacht sogar die griesgrämige Rezeptionistin. Susi reißt sich sogleich die Kleider vom Leib und sinkt im klimatisierten aufs Bett. Ich verkrieche mich in den Schatten auf dem Balkon, der, direkt über dem Wasser vermuten lässt, auf einem Schiff zu sein. Mittagshitze.

 

Nachmittags: Zweiter Gang nach Aberdeen. Wir kommen an einer Schule vorbei, einer winzigen, bunt angemalten Bretterbude. Hier werden die Kinder schichtweise unterrichtet, denn es passen nicht viele hinein. Der Lehrer stellt sich uns als Mister Leng vor. Ein kleiner Rastajunge ist sein Musterschüler. Er sei brilliant und könne schon exzellent Gitarre spielen, betont Mister Leng stolz. Die Schule ist ein eigen initiiertes Projekt. Die vielen Projekte internationaler Organisationen inspirieren die Einheimischen, selbst etwas auf die Beine zu stellen. Öffentliche Schulen sind noch Mangelware, zu viele wurden im Krieg zerstört. Die Initiatorin kümmert sich um das Catering der Kinder: sie hockt neben der Bretterbude auf einem schiefen Schemel und schnippelt Okra-Schoten.

Zum Essen gehen wir wieder zu unserem Coca-Cola Wellblechcontainer. Wir kommen mit einem Ingenieur des Landministeriums ins Gespräch, der für einige Projekte großer Organisationen den Boden sozusagen bereitet und sich sehr für unsere Vorhaben in Moyamba interessiert.

Wir müssen Geld wechseln. Der Ingenieur weiß von einem Money Changer in der Nähe und bietet uns an, den Weg zu zeigen. Der Guineaner gesellt sich zu unserem lustigen Trupp. Uns fällt auf die Schnelle nichts ein, wie wir ihn abschütteln können. Zu allem Überfluss erklärt Mr. George, der Ingenieur uns unterwegs, dass alle Guineaner Gauner und Diebe seien. Der Money Changer, ein Vertrauen erweckender Mann Typ Onkel Tom steht vor dem Gebäude. Unser illustrer Trupp folgt ihm hinein, einen engen Gang entlang. Er ist ziemlich dunkel. Dann geht es nach rechts, nach links, man hat das Gefühl in einem Labyrinth in den Katakomben zu sein und die Gänge werden immer enger, niedriger und dunkler. Schließlich treten wir durch eine Tür und befinden uns in einem Restaurant. Wir setzen uns an einen runden Tisch. Nichts passiert, unbehagliches Schweigen.

Ich durchbreche die Stille und frage den Money Changer, ob er ein Office hat, denn, ehrlich gesagt, möchte in der Öffentlichkeit, schon gar nicht vor Alhaji Daffays (Guineaner) Augen meine Dollarbündel entblättern. Hat er nicht. Mustapha George und der Money Changer sind in eine Diskussion entbrannt. Susi und ich auch. Daffay nervt. Mein Geld ist in einer Bauchtasche, gut versteckt unter der Kleidung. In der Tasche habe ich 50$. Ich beschließe, erst nur diese zu wechseln. Genau dazu rät uns Mr. George. Wir könnten am Montag in Freetown Geld wechseln, dort bekämen wir einen official receipt, heiss begehrte Objekte in -Afrika. Daffay insistiert, wir mögen ihn am nächsten Tag anrufen, was wir mit auf dem Rücken überkreuzten Fingern abnicken, damit er endlich das Weite sucht. Dann beginnt der 50$ Changing Prozess. Mustapha nimmt den Schein und steckt ihn in seine Brusttasche. Er eröffnet die Verhandlung. Onkel Tom erwidert. Dann starren sich beide Minuten lang an. Von Zeit zu Zeit wischen sie sich den Schweiß mit mitgebrachten Waschlappen aus dem Gesicht. Sonst passiert nichts. Die nächste Runde verläuft ähnlich, nur dass die Schweiß-Abwisch-Intervalle kürzer werden. Dann erfolgt die Lamento-Runde des Geldwechslers. Darauf erneutes gegenseitiges Anstarren. Nach gefühlten drei Stunden ist der Deal perfekt.Sonntag: Der Strand ist voller Menschen, die Fußball spielen. Jeder Schatten spendende Baum ist belegt. Es ist unglaublich heiß. (Es muss über 40° sein) Wir gehen in ein Internetcafe, aber mir läuft der Schweiß, trotz Ventilatoren in Strömen hinunter, so dass ich völlig uninspiriert bin. Wir organisieren unseren Transport am nächsten Morgen, mit vorherigem Geldwechsel (größere Menge mit Aussicht auf official receipt) und flüchten aus der Hitze. Auf dem Balkon unseres Hotelzimmers breiten wir eine Wolldecke aus. Picknick auf Schiffsdeck. Wir verspeisen unseren Proviant, den wir unterwegs gekauft haben: Mangos, Erdnüsse und Bananen.

 

Zeit ist Gummi..

Montag: Abreise nach Moyamba. Es ist 10 Uhr, die Uhrzeit, die zur Abreise ausgemacht war. Der Fahrer hat schon vor einer Stunde angerufen und gefragt, ob wir fertig seien. Das hat uns erstaunt. Wir haben vorsichtshalber bejaht und uns beeilt. Jetzt ist er noch nicht da. Wir freuen uns auf die Reise und auf Moyamba. Endlich ist das Wochenende vorbei und wir können los!

11 Uhr: Kein Fahrer. Ich rufe ihn an. Er sei schon fast da, der Verkehr hat ihn aufgehalten.

11.30 Uhr: Der Fahrer ruft an. Er ist gleich da.

12 Uhr: Der Fahrer ruft an. Er ist bei seiner Mutter zum Mittagessen. Er reicht sie mir am Telefon weiter, damit wir ein bisschen plaudern können.

12.30 Uhr: Der Fahrer ruft an. Er sei gleich da. Der Verkehr!

13.00 Uhr: Immer noch keiner da.

Irgendwann später: Unser Fahrzeug kommt. Es war von einem Jeep die Rede gewesen. Es ist aber ein altersschwacher PKW. Die Lautsprecher müssen ausgebaut werden, damit wir unser Gepäck unterbringen können. Ich fürchte, dass das Auto unter dem Schraubenzieher zusammenbricht.

Wir brauchen Stunden, um uns durch den Staub in Freetown zu schlängeln, dann weitere Stunden über rote Staubpisten, abenteuerliche Brücken nach Moyamba. Es ist auch nicht so einfach Moyamba zu finden. Welche Ansammlung von Hütten ist bitte schön die Provinzhauptstadt?

In Moyamba: Fröhliche Kinder, Hitze, Staub und Mangel.

Nach etlichen Dreieckstelefonaten mit Rosalyn, dem Fahrer und einem Einheimischen, zur Definition unserer Lage und weiteren Routenplanung, dem Verlust einiger Bodenblechteile und dem Einbruch der Dunkelheit erreichen wir endlich das Kinderheim in Moyamba. Paniert: Haare, Haut, Kleidung, Gepäck, alles ist dick bedeckt mit dem roten Staub der Straße.

Der Empfang ist herzlich, fröhlich, lustig. Die Kinder umzingeln uns, singen, tanzen, springen auf den Arm, völlig ohne Scheu. Dann müssen alle Kinder sich erst einmal aufstellen und ein Begrüßungslied singen. Warum nur ist es so heiß? »Global warming,« meint Rosalyn, und wischt sich den Schweiß von der Stirn. «Es ist ungewöhnlich heiß.« Wir bekommen die Gästehütte zugewiesen. Die Wasserbehälter im Bad sind mit Wasser aus dem Brunnen aufzufüllen. Es gibt keinen Strom, aber ein paar Batterie betriebene Glühbirnen, die sparsam zu benutzen sind. Rosalyn erledigt zügig eine große Kakerlake. Ich halte nur kurz die Luft an, Susi erfährt nichts davon.

Wir können nicht einschlafen. Es ist so heiß, man fühlt sich wie eine Frisur unter der Trockenhaube.

Hitze! Das Denken verlangsamt sich, die Bewegungen werden träge, die Wahrnehmung zeitverzögert. Das Land hat hohes Fieber und man fühlt sich wie ein betroffenes Körperteil. Nass geschwitzt bewegt man sich langsam durch den heißen Wind und wird unvermeidbar in den roten Staub eingehüllt. Schon das Beobachten von Frauen bei der Arbeit oder Kinder beim Spiel ist anstrengend. Kühle Getränke gibt es nicht, mangels Strom. Fünf Minuten Abkühlung bekommen wir nur, wenn wir uns nach der Dusche nass in ein Tuch wickeln und möglichst wenig bewegen. Am nächsten Tag ist Bescherung: Die Inhalte der Koffer werden ausgeteilt. Rosalyn nimmt das in die Hand und sorgt für absolute Ordnung und Disziplin. Die Kinder müssen Spalier stehen und sich gedulden, bis sie aufgerufen werden. Dennoch sind die Augen groß, die Stimmung ehrfürchtig, wie an Weihnachten und das eine oder andere Kind kann es sich nicht verkneifen, näher zu treten und die Nase etwas tiefer in den Koffer zu stecken. Und dann rauschen sie glücklich ab, mit ihren Schätzen. So viel Frohsinn … Im Laufe des Tages kommen alle Kinder und bringen ein Bild, das sie uns gemalt haben, supersüß.

Deborah und Rosalyn Freeman sind großartige Frauen mit viel Herz und Energie. Sie geben den Kindern Wärme und Geborgenheit, setzen sich für sie ein und haben auch ein gutes Standing in der Community.

 

Heimbegehung

Den größten Kummer machen mir die Schlafräume. Sie wurden gerade verbessert: es wurden Trennwände eingezogen, so dass immer nur ein paar Kinder in einem Raum schlafen. Es gibt aber keine Bettlaken, die Matratzen sind mit Gummi beschichtet, aber dieses Gummi ist größtenteils abgewetzt. Es riecht wie in einer Katzentoilette, die wochenlang nicht gesäubert wurde! Rosalyn erklärt, dass viele Kinder aufgrund der Traumata einnässen.

Die Schulräume sind meiner Meinung nach zu duster, aber verglichen mit anderen Schulen sind sie hervorragend. Für einen ganz kleinen Beitrag können auch Kinder des Ortes die Schule besuchen, wo die Lehrer immer unterrichten und nicht, wie in staatlichen Schulen, nur dann, wenn sie gerade mal Lust dazu haben, da sie selten Geld bekommen.

Ich habe Klein-Conrad auf dem Arm. Er macht in die Hose, groß, weich, dünn, hat keine Windel an. Ich habe ein Oberteil aus Stoff an, eng, ohne Reißverschluss. Rosaline hilft mir, mich mit einer Roll- und Wickeltechnik, mich zu befreien, so dass ich mir den Kakao nicht durchs Gesicht ziehen muss.

Die Mädels, außer den ganz kleinen (Small, Mabel, Princess) haben kurz geschorene Haare. Klar, die Flechtfrisuren dauern Stunden. Sie vertrauen mir in einer Minute, als sonst niemand in der Nähe ist mit ernsten Gesichtern an, dass sie sich Ohrringe wünschen, damit sie niemand für Männer hält.

Kleidung wird auch dringend benötigt. Sie rennen in Lumpen und Fetzen durch die Gegend. Bei dem Staub muss ständig gewaschen werden, ordentlich gerubbelt mit den Händen. Das hält kein Stoff lange durch.

Auch Bücher sind ein heiß begehrtes Objekt und mal einen Film anschauen zu dürfen, wäre das Größte. Aber ohne Strom…

Auf dem Gelände wird gerade eine Nursery gebaut, an die die neuen Toiletten angeschlossen werden sollen. Auf der Baustelle wird fleißig und kontinuierlich gearbeitet. Samuel, der Kontraktor bewacht das Ganze zusammen mit dem Chief-Schreiner. Ein Rasta in kurzen Hosen und Gummistiefeln rührt den Beton an.

In der Nacht hören wir Stimmen. Monoton. Fourty-six, seventy-three, sixty-four … Es ist mindestens zwei Uhr, wir schlafen nicht, sondern verdunsten, neugierig beobachtet von Spinnen in allen Größen und Formen und anderen Wesen, von denen wir lieber nichts wissen wollen. Zuerst halten wir die Stimmen für eine Halluzination. Dann gehen wir ihr nach und stellen fest, dass Rosaline arbeitet, für Geld, um die laufenden Kosten für das Kinderheim zu sichern. Sie gibt für Schulen des Ortes die Prüfungsergebnisse in den Computer ein.

Jedes Kind hat ein Sparkonto auf der Bank, wo jeden Monat kleine Beträge eingezahlt werden, um die weitere berufliche oder universitäre Bildung zu sichern. Dies könnte mit Patenschaften verstärkt werden. Ausserdem wären die Grundkosten gesichert, so dass Rosalyn nicht mehr nachts arbeiten müsste. Ich spreche dies an. Rosalyn nickt und fügt hinzu, wie schön und wichtig es für die Kinder wäre, zu wissen, dass es irgendwo auf der Welt jemanden gäbe, der sich für sie interessiert. Sie träumt auch davon, drei Hektar Land zu kaufen: einen für den Eigenanbau, einen für cash-crop, d.h., um die Feldfrüchte zu verkaufen und einen, um die Gehälter der Lehrer zu sichern. Da könnten einige der Kinder auch den Landbau lernen, sowie die Weiterverarbeitung der Lebensmittel. Rosalyn hat schon einmal ein Restaurant geführt und verfügt somit über die notwendige Erfahrung.

Somit hätten einige der Kinder, die das Zeug für die Universität nicht haben, eine Berufsperspektive und das Kinderheim könnte Einkommen generieren und ein Stück weit unabhängig werden. Ein Zaun mit Tor um das Gelände wäre auch notwendig, um die Kinder zu schützen. So könnten sie nicht mehr auf die Straße laufen und fremde könnten nicht einfach das Gelände betreten.

Rosalyn kümmert sich auch um Kinder, Mütter, Familien außerhalb des Heimes, z.B. Minderjährige, die bei Vergewaltigungen schwanger wurden. Einer Frau, die aus Guinea während Unruhen bei der Wahl flüchtete und in Moyamba keine ihrer Verwandten mehr vorfand, mietete sie eine Hütte gegenüber des Heimes. Bei ihrer Flucht war die Frau schwanger gewesen und hatte ein Baby und ein Kleinkind dabei.

Früher haben Rose und Mammy Deborah, wenn Kinder gebracht wurden, versucht deren Verwandte ausfindig zu machen. Aber keiner hob die Hand. Als die Kinder dann in einem alter waren, in dem sie arbeiten konnten, tauchten plötzlich Leute auf, die sich als Verwandte ausgaben und die Kinder mitnahmen. Sie hatten keine Handhabe dagegen. Kämpferisch und ausdauernd wie sie sind, machten sie dem Ministerium die Hölle heiß. Jetzt werden die Verwandtschaftsverhältnisse genau geprüft und so etwas kommt nicht mehr vor.

Essenszeit. Gekocht wird auf einer ungeschützten Feuerstelle, wo sich Kinder leicht verletzen könnten. Sie essen mit den Fingern, da, wo sie einen Platz finden: ein Mauervorsprung, ein Holzstoß. Für ausgewogene Ernährung reicht das Geld nicht. Ein Gebäude, das als Essraum, Gemeinschaftsraum dienen könnte, Ruhe für Hausaufgaben und Lesen ist vorhanden, jedoch müsste es gründlich saniert werden, zuerst das Dach, denn es regnet hinein.

Ich lasse mir von Rose die Geschichten der Kinder erzählen, sowie ihre Besonderheiten, Krankheiten, usw. Das nimmt zwei Tage in Anspruch und oft genug müssen wir innehalten, weil ich nicht mehr davon ertragen kann. Es ist einfach nicht zu fassen, was diese kleinen, lieben Wesen schon ertragen haben. Warum tut man Kindern so was an? Direkt, oder indirekt durch Krieg?

 

Besuch in Moyamba

Wir gehen mit Rosalyn in den Ort. Der Präsident kommt gerade mit seinem riesigen Hubschrauber angeflogen, um dem Krankenhaus einen Besuch abzustatten. Für diese Zeit schaltet das Elektrizitätswerk den Strom ein. Wir erfrischen uns gerade in einer Bar, in der alle Plastikstühle nach vorne gerichtet sind mit lauwarmer Limonade. Tische gibt es nicht. Jetzt werden zwei Fernseher mit zwei verschiedenen Sendern eingeschaltet. Die Stromzeit muss genutzt werden. Im Stadion, wo der Hubschrauber landet wird währenddessen ein Fußballspiel übertragen. Das Stadion tobt. Wen interessiert schon der Präsident?

Wir besuchen den ehemaligen Paramountchief, den Nachfolger von Madama Ella. (Der jetzige begleitet den Präsidenten). Bei Rosalyn schauen wir uns den tiefen und formvollendeten Hofknicks ab. Der PM ist in babylonischen Alter. Er sitzt auf einem Gartenklappstuhl, die Füße hat er auf dem dazu gehörigem Tisch. Zwischen seinen Füssen ein altes Transistorradio, aus dem Rauschen mit kaum wahrnehmbaren Rhythmus ertönt. Er ist umbeben von Männern aller Altersgruppen, die unseren Hofknicks mit beifälligem Kopfnicken quittieren. Ich presse die Lippen aufeinander, um während dieses Protokollbesuchs nicht laut lachen zu müssen.

Abends kommt Pater Jacob mit seinem Hund Brownie und wir singen, während eines Regenschauers, auf der Veranda das Halleluja.

Tagsüber wundern wir uns, wie die Kinder über den Hof toben und spielen, singen und tanzen, während uns schon braune Sauce den Arm hinunterläuft, wenn wir ihn nur heben. Und für die Eimerdusche, muss man Schwerstarbeit am Brunnen leisten, um die Eimer neu mit Wasser zu befüllen. Wir haben immer mehrere Kinder, an der Hand, am Rockzipfel, auf dem Arm: „I want you for friend.“ „I want you for mummy.“

Als wir abreisen sind wir al dente gekocht, oder gar darüber. Alle Transportmöglichkeiten sind ‚not available’ außer Poda-Poda (überfüllter Kleinbus, in dem sämtliche Marktware mitgenommen wird, inklusive lebender Hühner).Ich sitze am Rand. Es gibt keine Lehne und keine Innenverkleidung. Entweder ich stoße mir die Schläfe oder das Bein, oder wir müssen wegen der Pfützen so dicht an den Rand fahren, dass mir das Gestrüpp durch das Gesicht fährt. Durchgeschüttelt werden alle.

Freetown im Osterrausch

Technomusik, Männer mit Kuscheltieren und Fetischpriester in Fußballtricots.

Ostern am Strand: Zusammen mit allen Sierra Leonern, die die Möglichkeit dazu haben. Menschenmassen, laute wummernde Technomusik, Männer, die mit großen Kuscheltieren oder in geringelten Kniestrümpfen baden gehen, frischer Lobster mit Bier und Pommes, Sand im Bett. Dann, die nächsten Tage: Ruhe. Einsamkeit. Paradiesische Idylle. Vor unserer einfachen, einsamen Hütte frühstücken wir direkt auf dem Strand, unter Kokospalmen.

Der Fetischpriester und sein Gehilfe rennen den Strand entlang. Sie sind spät dran. Der Priester trägt ein T-shirt vom FC Barcelona, darunter einen wadenlangen Bastrock. Sein Gehilfe trägt hingegen ein T-Shirt von Manchester United. Sein Bastrock ist nur Knielang. Außerdem schleppt er die Paraphernalia seines Meisters. Bei den Fischerbooten angekommen, beginnt die Zeremonie mit Trommeln und Gesang. Bevor die Boote raus fahren, müssen die Hexen verjagt werden. Jetzt ist es auch Zeit für mich, nach Freetown aufzubrechen. Pünktlich erscheint mein Fahrer Bailor mit seinem blauen Mercedes. Seinem Alter nach zu urteilen, hat er sicher schon Jesus zum letzten Abendmahl begleitet.